Pièles: Deformation in einer lila-pinken Welt
Ein Film von einem Casanova, der sein Publikum nicht nur mit Charme, sondern auch mit Situationskomik, Style und wahrem Gespür für Tragik um den kleinen Finger wickelt.
Die Hauptfiguren des Langfilmdebüts leben im Verborgenen. Sie sind anders als die Menschen um sie herum und haben doch eine Gemeinsamkeit: Ihre Körper sind durch Missbildungen deformiert. Dies treibt sie in ihre Schutzräume – meist ihre eigenen vier Wände – zurück. Die Konfrontation mit der Außenwelt stellt für die „Deformierten“ jedes Mal aufs Neue eine Herausforderung dar. Eduardo Casanova lässt uns Zuschauer in verschiedene Episoden einer in lila und pink kolorierten Welt eintauchen und konfrontiert uns auf ganz unterschiedliche Weise mit den Schicksalen seiner Figuren.
Achtung: Dieser Artikel enthält Spoiler. Jede Menge. Und sagt nachher nicht, wir hätten nix gesagt!
Menschen, die niemand zu Gesicht bekommen soll
„Ich habe die Farben lila und pink gewählt, weil ich mich selbst deformiert in einer lila und pinken Welt gefangen gefühlt habe.“, sagt Schauspieler Eduardo Casanova über die Wahl seines wohl auffälligsten Stilmittels bei seiner Filmvorstellung auf der Berlinale 2017, „die Welt der Deformierten sollte nicht dunkler dargestellt werden, als sie eigentlich ist.“ Nicht durch sie, die Deformierten, wird das Entsetzen beim Zuschauer hervorgerufen, sondern durch das Verhalten der sie umgebenden Menschen, die sich an den Missbildungen ergötzen, sich an ihnen aufgeilen, sie aus Scham hinter Masken verschwinden lassen wollen, sie im geschäftlichen Sinne ausnutzen oder sie zum Opfer ihrer Gewalttaten werden lassen. „Die Welt ist voll von Leuten, die man besser nie zu Gesicht bekommen sollte.“, sagt der pädophile Familienvater zu der noch minderjährigen Prostituierten Laura und spielt damit nicht nur auf ihre nicht vorhandenen Augen, sondern auch auf die Grausamkeit der Menschen an – seine eigene wohlwissend eingeschlossen.
Ein Spiegel für den Zuschauer
„Die Welt ist grauenvoll, der Mensch ist grauenvoll, aber wir können dem nicht entkommen, weil wir eben selbst das Grauen sind. Das gilt es zu akzeptieren.“, heißt es zu Beginn des Films und so geschieht in jeder Episode etwas auf seine Art Grauenvolles: Samantha leidet unter einer von Casanova erfundenen Missbildung, die den Zuschauer möglicherweise durch das Hervorrufen von Gelächter als ebenso oberflächlich wie die Nebenfiguren entlarvt. Die Stellen von Anus und Mund sind bei Samantha vertauscht, sodass in ihrem Gesicht anstelle der Lippen ein beharrter After hervorklafft. Ihr Vater versucht, sie vor der Außenwelt zu verstecken, um sie vor Hänseleien zu schützen. Aus diesem Grund schenkt er ihr eine Einhornmaske zum Geburtstag, die sie in Zukunft tragen soll, um ihr Gesicht zu verdecken. Das Mädchen wird von Fremden ausgelacht, sie wird angefallen und schließlich Opfer einer Vergewaltigung. Durch ihr Schicksal gepeinigt und emotional vollkommen aufgelöst überfährt Samantha versehentlich Christian, welcher kurz darauf im Krankenhaus verstirbt. Das Mädchen ist von Schuldgefühlen geplagt und stürzt sich beinah selbst in den Tod.
Einsamkeit und Nähe
Das Leben der Deformierten ist im Allgemeinen von Einsamkeit geprägt. Sie sehnen sich nach Zuneigung, sei dies durch eine Liebesbeziehung, durch väterliche Liebe sowie selbst erfahrene Mutterliebe oder durch reine Akzeptanz und den Wunsch nach Freundschaften. Laura ist beispielsweise bereit, ihren diamantenen Augenersatz für ein wenig körperliche Zuneigung herzugeben.
Die Missbildungen wirken gleichermaßen anziehend wie abstoßend auf das soziale Umfeld der Hauptfiguren. Während sich Samantha vor verachtenden Blicken schützen muss, liebt Anas Liebhaber Ernesto sie nur wegen ihres deformierten Gesichts. „Das einzige, was dich an mir interessiert, ist mein Körper.“, klagt ihn Ana an, die sich von Ernesto als Mensch nicht wirklich geliebt fühlt. Die Deformierungen befriedigen innerhalb des Filmes immer wieder bestimmte Fetische und Wünsche. So wählt der pädophile Vater Laura ganz bewusst aufgrund ihrer Behinderung aus. Itziar gliedert sich in diesem Rahmen darüberhinaus selbst in den Reigen der Deformierten ein, da sie ihren übergewichtigen Körper zu abstoßend findet, um ihn zu zeigen. Um menschliche Nähe zu erfahren, geht sie ebenfalls zu der blinden Prostituierten Laura, die sie nicht aufgrund ihrer Formen verurteilt.
Jede der Figuren geht mit ihrem Schicksal anders um: während die einen ihre Deformierungen leugnen und sich ihre Andersartigkeit nicht eingestehen wollen, versuchen andere, ihre körperlichen Missbildungen zu akzeptieren oder durch Schönheitsoperationen rückgängig zu machen. Der ansonsten körperlich gesunde Christian verletzt sich sogar selbst, da er seine Beine nicht als seine eigenen akzeptiert und sich dieser entledigen möchte. Er scheitert daran, die tätowierte Meerjungfrau auf dem Arm seines verschwundenen Vaters nachzuahmen und stirbt schließlich dramatischerweise an den Folgen seines Vorhabens, sich seine Beine von einem Auto – Samanthas Auto – abfahren zu lassen.
Ein nackter Xavier Dolan – getarnt als Casanova
Casanovas Stil hat dabei nicht nur aufgrund der gewählten Farbigkeit von Lila und Pink einen hohen Widererkennungswert. Der Regisseur bedient sich eines einprägsamen Soundtracks, gelegentlicher Slow-Motion Effekte und visualisiert metadiegetische Wunschvorstellungen der Figuren in kunstvoll arrangierten Bildern. Die Verwendung derartiger künstlerischer Mittel weist einige Parallelen zum filmischen Werk des quebecischen Regisseurs Xavier Dolan auf, dessen Handschrift sich durch diese Stilelemente kennzeichnet. Der Marshmellowregen aus Dolans „Les amours imaginaires“ wird bei Casanova durch Fische ersetzt. Die zentralperspektivistische Kamerafahrt in Zeitlupe verschiebt sich von einer in den Raum starrenden desillusionierten Figur zu einem schwebenden nackten beinamputierten Jesus mit lilagefärbter Scham. Casanova implementiert Dolansche Filmkunst in sein Werk, welche diesem seinen Glanz verleiht und Dolanfans auf ihre Kosten kommen lässt. Dabei ist es nicht verwerflich sich an Gutem zu orientieren und es auf sehr passende Art und Weise als Vorlage für eigene Ideen zu verwenden.
Casanova schockt überall dort, wo sich die Gelegenheit bietet. Er hält drauf, wo andere Filmemacher längst Geschlechtsteile überblenden oder durch entsprechende Kadrage verstecken würden. Das gleichzeitige Durchbrechen der vierten Wand integriert den Zuschauer dabei zusätzlich ins Geschehen und macht ihn auf seine Rolle als Voyeur aufmerksam. Der Rezipient ergötzt sich am Skandalösen. Casanova lässt an den Stellen einen Blick zu, an denen man normalerweise längst wegschauen würde und deuten den Begriff von Schönheit durch seine Darstellungen neu.
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