Nostalgia – wenn ein Virus um sich schlägt
Während wir uns vorwärts bewegen, sehen wir unsere Vergangenheit im Rückspiegel an uns vorbeiziehen. Gil Pender, Protagonist des Woody Allen Films Midnight in Paris (2011), möchte diese vergangene Zeit am liebsten in einer von ihm herbeigesehnten romantischen Utopie festhalten.
Wie ein ausgezehrter Marcel Proust ist er à la recherche du temps perdu, auf der Suche nach einer eigentlich nie dagewesenen Vergangenheit – den Goldenen Zwanzigern. Ich will nicht bezweifeln, dass es eine Art l’Age d’Or jemals gab, aber Gil Pender sehnt sich nach einer von ihm romantisierten Fantasie dieser Epoche. Er scheint unter einer besonders ausgeprägten Form von Nostalgia zu leiden, ein krankhaftes Schwelgen in vergangenen Epochen, welches viral um sich schlägt und die Figuren um unseren Protagonisten herum infiziert. „Früher war alles besser“, ist ein symptomatisches Motto zahlreicher Charaktere in Woody Allens Kassenschlager. Sie sehnen sich nach einer längst vergangenen Zeit – oder vielmehr nach der der Wahrwerdung ihrer Illusion dieses längst überschrittenen Zeitalters.
Ein von Stereotypen überschäumendes Paris der Zwanziger
Gil Pender selbst lässt zudem den Beginn des 20. Jahrhunderts in seinem flâneurhaften Verhalten wieder aufleben. Nachts spaziert er ziellos durch die Straßen, interessiert sich als Tourist im 21. Jahrhundert und in den Goldenen Zwanzigern für Leute und Kultur. Er ist Beobachter, sucht nach Inspirationen und zugleich als Autor nach seinem Platz in der Kunst. Schnüffelnd ist er auf der Suche nach Identität und fühlt sich durch die ihn umgebenden Menschen seiner wahr gewordenen Illusion endlich einmal verstanden. Dass er dabei einen Ausflug in ein von Stereotypen überschäumendes Paris der Zwanziger macht, bestätigt ihn nur noch mehr in seiner Berechtigung, für dieses Zeitalter zu schwärmen.
Doch wie sehr er sich auch bemüht, ob nun im Paris des 21. Jahrhunderts oder des L’Age d’Ors, er ist und bleibt ein (Zeit-)Tourist – und noch dazu ein amerikanischer. Und die ganze Sicht des Films auf Paris ist ebenso von diesem Charakter. Es ist die Sicht des Touristen Woody Allen auf die Stadt. „I just wanted it to be the way I saw Paris through my eyes.“ (Woody Allen). Ja, das sieht man.
Mit den Augen eines Touristen
Die ersten Minuten alleine schon bieten dem städtereisewütigen Zuschauer eine günstige Alternative zu einer kostenintensiven Stadtrundfahrt. Eiffelturm, Place de la Concorde, Seine, Notre Dame usw. all inclusive in Postkartenansicht und das bequem vom (trockenen!!!) Kinosessel oder heimischen Sofa aus. Was will man mehr? Aber es geht noch weiter: Hemingway spricht wie er schreibt (eigentlich ist der gesamte Film als Allegorie auf Hemingways Werk Paris – ein Fest fürs Leben zu sehen), Dalì redet unablässig über sein Rhinozeros, Gil selbst gibt Buñuel kurzerhand die Idee zu einem seiner berühmtesten Filme: El Angel Exterminador. Der Zuschauer betritt mit Allens Film eine Welt aus glämmernden Karikaturen des 21. (ja, auch die amerikanischen Touris entgehen einer Stereotypisierung nicht) und 20. Jahrhunderts und da darf natürlich auch Paris‘ Ruf als Stadt der Liebe nicht zu kurz kommen. Diese amorisierende Wirkung der Stadt wird spätestens im Happy End noch einmal bestätigt.
Allen visualisiert auf diese Weise eine kollektive Imagination, eine Erinnerung an eine Zeit, in der wir nie gelebt haben, aber eine Erinnerung, die wir dennoch teilen. Negative Schwingungen und Konflikte dieser Epoche werden größtenteils ausgeblendet. Aber das ist Nostalgie – eine Geschichte ohne Schuld, ohne Opfer, eine Vergangenheit, in der alles besser war. „Nostalgie ist“, wie der weniger sympathische Oberschlaumeier Paul bei einem seiner Vorträge im Film zum Besten geben muss, „Verdrängung, Verdrängung der schmerzhaften Gegenwart.“
Aber warum nicht? Der Begriff Vintage lässt auch die alten Socken von Oma gleich in einem ganz neuen Licht erstrahlen. Nostalgie ist trendy! Und was ist einzuwenden gegen ein bisschen Kitsch und Großstadtromantik?
Was am Ende übrig bleibt: Eine romantische Fantasie
Nun gut, dass Paris im Regen am schönsten sein soll, kann ich auch nach einem Jahr in dieser Stadt nicht nachvollziehen. Wenn jemand Spaß daran hat, sich mit triefnassen Haaren und Klamotten in eine vollbesetze Metro zu quetschen, in der einem dann vor lauter Luftfeuchtigkeit die Brillengläser beschlagen, dann gratuliere ich dieser außergewöhnlichen Person gerne zu so viel Lebensfreude.
Aber sei es Allen gegönnt. Novalis und anderen Konsorten ist es ja schließlich auch eingefallen, sogar den Tod zu romantisieren und die Abgründe einer Großstadt zu poetisieren. Da darf so ein bisschen euphemistischer Regen vielleicht noch erlaubt sein.
Was am Ende übrig bleibt, sind ein paar schöne Dinge in einem Antiquitätenladen, die Musik Cole Porters, die alten Straßen, Gassen und Gebäude Paris‘ und eine romantische Fantasie eines Goldenen Zeitalters. Der Film öffnet dem Zuschauer eine Autotür am Fuße einer Treppe (so ganz nebenbei: in dem Pub gegenüber ist die Stimmung beim Public Viewing immer außerordentlich gut) und gibt dem Zuschauer für eineinhalb Stunden Möglichkeit zur Flucht. Aber warum in der knallharten Realität leben, wenn man ihr doch durch die reine Kraft der Imagination ¬– wie schon die Romantiker des 18. Jahrhunderts festgestellt haben – entfliehen kann? Ganz nach Woody Allen: „I hate reality but it’s still the best place to get a good steak.”
Was die Leute sagenJanin-Rating (zählt natürlich doppelt) IMDB.com Rotten Tomatoes Metacritic |
Gesamtnote
8,08 |
Janin und SONY einen Gefallen tun und Midnight in Paris kaufen
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