Lucy: From Evolution to Revolution
Die Zukunft ist jung, blond, schön und heißt Lucy. Zumindest wenn es nach Science-Fiction-Regisseur Luc Besson geht. In seinem aktuellen Streifen stellt er alle bisher gültigen naturwissenschaftlichen Gesetze auf den Kopf und legt den ideellen Grundstein für eine Revolution der menschlich-digitalen Vernetzung.
Achtung: Dieser Artikel enthält Spoiler. Jede Menge. Und sagt nachher nicht, wir hätten nix gesagt!
Eine junge Studentin bekommt ein Paket Drogen in ihren Bauch implantiert, welches in ihrem Körper aufreißt, eine Substanz freisetzt, die 100% ihrer zerebralen Fähigkeiten aktiviert und sie auf diese Weise in einen allwissenden menschlichen Supercomputer verwandelt. Das ist die Geschichte von Luc Bessons Science-Fiction Thriller Lucy. Neben 90-minütiger Unterhaltung wirft der Film auch ernsthafte Fragen über digital vernetztes Denken und die Akzeptanz einer möglichen neuen Weltsicht auf. Besson bereitet den Rezipienten auf ein neues digitales Zeitalter durch den computerisierten Menschen vor und stellt dabei bisherige wissenschaftliche Erkenntnisse in Frage. Lucy zeigt in diesem Sinne eine zweite Renaissance – eine Wiedergeburt der Menschheit. Die Koexistenz von Mensch und Maschine sowie ihre Verschmelzung miteinander stehen im Mittelpunkt der digitalen Revolution, die die bisherige darwinistische Evolutionstheorie abzulösen scheint. From evolution to revolution: wenn die Menschheit vor den Trümmern ihrer bisherigen Erkenntnisse steht.
Ein menschlicher Supercomputer
Die Protagonistin des Films, Lucy, verkörpert von Scarlett Johansson, lebt als amerikanische Studentin ein sorgloses Leben in Taiwan. Eines Tages zwingt sie ihr Freund Richard dazu, einen Koffer mit ihr unbekanntem Inhalt an den Geschäftsmann Mr. Jang auszuliefern. Der Kriminelle Jang lässt sie entführen und benutzt sie als lebendes Transportmittel, indem er ihr die Drogen, die sich in dem mysteriösen Koffer befanden, unter die Bauchdecke implantieren lässt. Als Lucy versucht, vor ihren Entführern zu fliehen, reißt das Packet während eines Kampfes mit ihren Kidnappern in ihrem Bauch auf, sodass die chemisch produzierte Substanz in Lucys Blutbahn gerät. Die Droge, künstlich hergestelltes C.P.H.4 (ein Stoff der allein eine Erfindung der Filmemacher ist), ermöglicht Lucy Stück für Stück Zugang zu ihren gesamten zerebralen Fähigkeiten zu erhalten, von denen ein normaler Mensch laut Film nur 10% nutzen kann. Lucy entwickelt sich auf diesem Wege zu einem menschlichen Computer, der alles um sich herum aufnimmt und verarbeitet. Sie verfügt über ein unschätzbar großes Wissen so wie über physische Superkräfte und besitzt die Fähigkeit, die Welt durch Telekinese und Telepathie zu steuern.
Die Protagonistin nutzt ihre Kräfte, um sich an ihren Kidnappern zu rächen. Parallel zu dieser Story, wird die Geschichte immer mal wieder auf die Vorlesung des Gastdozenten Professor Norman, gespielt von Morgan Freeman, gelenkt, der an der Sorbonne-Universität in Paris referiert. Dieser spricht über die Möglichkeit, mehr als die normal zugänglichen 10% eines menschlichen Gehirns nutzen zu können und weist auf die daraus resultierenden Konsequenzen hin. Lucy tritt mit ihm in Kontakt, als sie versucht, mehr über die Droge und ihre Wirkungsweise herauszufinden. Am Ende des Films begreift die Protagonistin schließlich, dass ihr Körper der starken Wirkung des C.P.H.4s nicht mehr gewachsen ist und sie entscheidet sich, ihr Leben der Wissenschaft zu opfern. Aus diesem Grund reist sie nach Paris und bittet Dr. Norman, ihr den Rest der Droge einzuflößen, die sie sich zuvor beschafft hat, sodass sie letztendlich ihre gesamte Hirnkapazität nutzen kann. Aufgrund der hohen Dosis, die ihr Dr. Norman verabreicht, löst Lucy sich in einzelne Teilchen auf und verwandelt sich in einen USB-Stick, der über alles Wissen verfügt.
Luc Besson bleibt in der Box
Bevor und während Lucy sich in das Speichermedium transformiert, stellt sie das bisherig gültige Konzept der Menschheit und alle geltenden physikalischen Gesetze in Frage. Ihrer Meinung nach bestehe die Einzigartigkeit des Menschen nicht. Darüber hinaus habe sich der Mensch alle naturwissenschaftlichen Maßeinheiten nur ausgedacht, um die irdischen Vorkommnisse auf für ihn verständliche Weise herunterzubrechen. „All social systems we’ve put into place are a mere sketch: one plus one equals two, that’s all we’ve learned, but one plus one never equaled two – there are in fact no numbers and no letters, we’ve codified our existence to bring it down to human size, to make it comprehensible, we’ve created a scale so we can forget its unfathomable scale.”, erklärt Lucy dem Professor. Doch Besson entwirft enttäuschender Weise kein explizites Alternativkonzept zum bisher bestehenden. Das Geheimnis der neuen Ära befindet sich auf dem USB-Stick gespeichert, dessen Inhalt dem Zuschauer bis über das Ende des Films hinaus verborgen bleibt.
Ein neuer Urknall?
Deutlich wird nur, dass mit Lucys computerähnlichen Rechenfähigkeiten und ihrer Verwandlung eine neue Wunde in der Geschichte der Menschheit aufreißt. Neben dem kopernikanischen Weltbild, der darwinistischen Evolutionstheorie und der Erkenntnis, keine Kontrolle über das eigene Unterbewusstsein zu haben, entwirft Besson nach freudschem Vorbild (die drei Kränkungen der Menschheit erklärt Sigmund Freud genauer in seinem Werk Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse) die Idee eine vierte Kränkung der Menschheit in seinem Werk, die alle bisher gültigen Gesetzmäßigkeiten in Erschütterung versetzt. Der Film strotzt dabei nur so vor Symbolen und Anspielungen, die diese Geburt einer neuen Welt versinnbildlichen. So ist die Protagonistin Lucy, benannt nach der ersten Frau, durch ihre Namensgebung geradezu dazu prädestiniert, das Ursprungswesen der neuen Spezies zu sein. Das Leitmotiv der Zellteilung als Symbol für neues Leben zieht sich darüber hinaus durch den gesamten Film. Es ist nicht nur die Droge, in Lucys Körper, die die rasante Vermehrung ihrer Zellen anregt, das Thema de r Geburt findet sich auch im Bild des spermienartigen Asteroidensturms am Ende des Films wider, an dem zahlreiche Bilder zusammenclashen und auf diese Weise einen neuen Urknall symbolisieren.
Lucy reist während ihrer Verwandlung zu einem Speichermedium durch die Vergangenheit, legt Station in ausgewählten Epochen der Menschheit ein und kehrt zum Ursprung allen Lebens, der ersten Zellteilung, zurück. Die Zellen werden in Bessons Film auf der einen Seite zu Lebensspendern, gewinnen jedoch auch auf der anderen Seite Überhand über Lucys Körper durch ihre rasante Reproduktion und zerstören ihre menschliche Gestalt.
Neben Darwin bleibt natürlich auch die Religion nicht verschont. In der Schlussszene symbolisiert Lucy in einem Tableau vivant angelehnt an das berühmte Fresko Michelangelos den biblischen Adam, der in diesem Fall nicht von Gott, sondern von einem Affen erschaffen wird. Die Evolutionstheorie wird auf diese Weise wie die Erschaffung des Menschen durch Gott mythisiert; zurück bleibt eine darwinistische Legende, eine gekränkte Menschheit.
The Computational Turn
Nicht ganz ohne Grund spielt sich darüber hinaus die actiongeladene Endszene des Films in einer Universität ab, nach Humboldtschen Ideal der Ort, an dem alles Wissen kondensiert und sich an weitere Generationen verbreitet. Auch in diesem Zusammenhang kommt das Bild der Zellteilung noch einmal ins Spiel: jede einzelne Zelle gibt ihre gesamten Informationen bei ihrer Teilung an die Tochterzelle weiter wie Lucy ihr Wissen an die Menschheit weitergibt. „If you’re asking me what to do with all this knowledge you’re accumulating […] pass it on. Just like any simple cell, going through time”, rät Professor Norman Lucy. Die Protagonistin nutzt dabei nicht mehr das altbewehrte Buch, um ihr Wissen weiterzugeben, sondern eine neue Hardware – ein digitales Speichermedium und leitet damit eine Ära der digitalisierten Menschheit ein.
Der Brite David Berry hat in diesem Zusammenhang die interessante Theorie entwickelt, dass digitale Codes eine neue Art des Denkens hervorrufen und die Erlernung neuer Fähigkeiten wie beispielsweise das Lesen von Computerdatensätzen provozieren. Der Wissenschaftler macht somit auf eine Revolution der Wissensverbreitung aufmerksam wie sie beispielsweise auch durch Gutenbergs Buchdruck im 15. Jarhundert hervorgerufen wurde. So stellt Berry folgende Vermutung an: „Perhaps we are beginning to see reading and writing computer code as part of the pedagogy required to create a new subject produced by the university, a computational or data-centric subject.“ (David Berry: The computational turn. Thinking about the digital humanities) Genau diese Vision wird durch Besson auf die Kinoleinwand gebracht. Lucy eignet sich ihr Wissen durch das rasante Lesen von Computercodes an und wird zum menschlichen Rechner.
Alles geht weiter
Der Evolutionsprozess ist in Bessons Film zugleich als eine Allegorie auf die Weitergabe und Ansammlung von Wissen sowie der Entwicklung dieser Wissensverbreitung anzusehen. Evolution und Wissensproduktion werden auf gleiche Weise durch Fehler oder neue Entdeckungen unterbrochen, in andere Richtungen gelenkt und vorangetrieben. „All living beings, from plants and insects to higher mammals and man, have evolved through a long, complex process of trial and error.“ , schreibt Stephen Greenblatt in seinem Buch The Swerve (in dem es übrigens zahlreiche interessante Parallelen zum Film Lucy gibt), “The Process involves many false starts and dead ends, monsters, prodigies, mistakes creatures that were not endowed with all the features that they needed to complete for resources and to create offspring.” Die blonde Heldin unseres Films macht Professor Norman auf eben diese Fehler in der Geschichte der Wissenschaften aufmerksam. Die Menschheit hat sich geirrt – in (fast) allem. Die Produktion und Weitergabe von Wissen wird weitergehen wie die Entwicklung des Menschen.
Die Zeit ist dabei für Lucy der einzig bestehende Parameter, der unsere Existenz als Mensch überhaupt erst ermöglicht. Sie definiert die Dauer einer bestimmten Konstellation von Atomen, die beispielsweise unseren Körper formen. Sie ermöglicht es uns, auf eine Vergangenheit zurückzublicken und neue Wissensbausteine zu älteren hinzuzufügen. Lucy kann aufgrund der Existenz der Zeit durch ihre verschiedenen Epochen und damit durch die unterschiedlichen Entwicklungsstadien des Menschen hindurchreisen. Sie begibt sich während ihrer Zeitreise zum New Yorker Times Square (ja, die Wahl des Ortes ist auch hier nicht ganz ohne Bedeutung) und lässt dort die Jahrhunderte in einem Zeitraffer an sich vorbeiziehen. Dabei wird deutlich, dass die Wissenschaft die treibende Kraft für die Entwicklung der Menschheit ist. Sie ist der Motor für den Fortschritt in der Zeit.
Bereit für die zweite Renaissance?
Lucy opfert sich zwar für die Wissenschaft auf, erklärt sich jedoch selbst im gleichen Zug für unsterblich. Wir sterben niemals wirklich. Mit unserem Ableben formieren sich lediglich unsere Atome neu. Diese Idee hatte bereits der römische Philosoph Lucretius (etwa 99 – 53 v. Chr.), der eine religiöse Deutung des Todes ablehnt. In seinen Augen berührt der Tod uns in keinster Weise, denn wenn wir tot seien, verspürten wir weder Schmerz, noch ein Verlangen, noch Angst. Mit dieser Aussage orientiert sich Lucretius an dem bekannten griechischen Philosoph Epikur (der immer wieder gerne in zeitgenössischen Filmen zitiert wird, ein Beispiel wäre Lars von Triers Nymphomaniac), der die beruhigenden Worte sprach: „Das schauerlichste Übel, der Tod, geht uns nichts an, denn solange wir leben, ist der Tod nicht da, wenn er aber da ist, sind wir nicht mehr.“
Luc Besson präsentiert uns mit Lucy also einen Paradigmenwechsel – einen Aufbruch in ein Zeitalter der vollständigen Digitalisierung. Das Alternativkonzept der digitalen Ära liegt jedoch wie die fünfte Dimension in Interstellar (wobei hier noch ein Versuch einer Darstellung vorgenommen wird) hinter dem Vorstellungshorizont der Zuschauer und vielleicht auch hinter dem der Filmemacher selbst.
Der Film zeigt uns, dass die Menschheit für einen solch radikalen Wandel – für ihre eigene Wiedergeburt – noch nicht bereit ist. So reagieren alle Figuren in Lucys Umgebung mit Überforderung auf die Fähigkeiten der schönen Blonden.
Wo kommen wir da denn hin?
Selbst Professor Norman revidiert seine Aussage, es sei die Aufgabe der Menschen über den Horizont der bestehenden Wissenschaften hinauszublicken, am Ende des Films. Von der darwinistischen Evolution zu einer wissenschaftlichen Revolution durch eine neue Weltsicht: Norman sieht darin die Bedrohung der geordneten Verhältnisse, seiner eigenen wissenschaftlichen Disziplin und die Gefahr eines Chaos‘, welches alle Systeme und Strukturen auf der Welt zum Einsturz bringen würde. Und schwupp, befinden wir uns wieder im Mittelalter, in dem Menschen nicht aus Atomen bestanden und das Leben nicht mit dem Tod endete – zumindest nicht auf offener Straße laut ausgesprochen. Der Professor selbst ist überfordert von der Vorstellung, als Mensch nicht Maßstab aller Dinge zu sein und tritt der neuen Kränkung der Menschheit durch Lucys Verwandlung in einen allwissenden Computer mit Respekt gegenüber. Steven Shapin charakterisiert diese Haltung der Wissenschaft treffend in seinem Werk Never Pure, in dem es heißt: „Instead of reckoning rightly or seeing what is authentically there to be seen, passion- and interest-influenced human beings tend to think and see not what is but what they wish to be the case.“ Mit voller Bremskraft Richtung Entwicklung der Menschheit!
Sicherlich ist es auch eine Aufgabe von Science Fiction, uns auf eine derartig vorstellbare Zukunft vorzubereiten. Auch das Science-Fiction-Universum von Star Trek zeigt eine solche Ausrichtung und scheint unserer Zivilisation immer einen Schritt voraus zu sein, was zum Beispiel Toleranz und Emanzipation betrifft.
In Lucy verschwindet der Mensch vollständig hinter der Maschine. Und einige Fragen bleiben dabei offen: wie weit können wir gehen? Wo liegen im Zeitalter von Google-Brillen und Computerchipimplantaten (der Roman Black out von Andreas Eschbach befasst sich übrigens mit diesem Thema) die Grenzen der digitalen Vernetzung? Wie können wir uns vor unserer eigenen Zugrunderichtung als selbstständig denkende Individuen schützen?
Was die Leute sagenJanin-Rating (zählt natürlich doppelt) IMDB.com Rotten Tomatoes Metacritic |
Gesamtnote
6,50 |
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