Google Inbox: Erstes Fazit nach zwei Wochen
Vor mehr als 10 Jahren, am 1. April 2004, stellte Google den damals im Funktionsumfang einzigartigen Dienst Gmail vor – und erfand damit die E-Mail neu. Von vielen für einen Aprilscherz gehalten, bot der Dienst sagenhafte 1 GB Speicher, ein intuitives Web-Interface und zahlreiche weitere Neuerungen (zum Beispiel die Konversationsansicht). Mit Google Inbox (offiziell: Inbox for Gmail) schickt sich Google an, zwar nicht die E-Mail neu zu erfinden, aber den Umgang mit ihr. Nach zwei Wochen ist es Zeit für ein Fazit.
Wie (fast) jedes neue Google-Produkt wurde auch Google Inbox Gebetsmühlenartig von den einen angefeindet („Jetzt entscheiden Computer, was wichtig ist und was nicht.“), von den anderen hochgelobt („Endlich erhalte ich nur noch wichtige E-Mails und muss mich um nichts mehr kümmern.“). Nach zwei Wochen Test lässt eins direkt mit Gewissheit feststellen: Mit der Realität hat weder die eine Seite noch die andere irgendetwas zu tun.
Was Google Inbox kann
Zuallerst einmal macht Google Inbox deutlich, dass das Interface von Gmail trotz aller Updates nicht wirklich mit der Entwicklung von Internet und PC Schritt gehalten hat. Google Inbox zollt sowohl Trends wie Flat Design Respekt, wie auch größeren Bildschirmen bzw. kleinen Mobilmonitoren. Kurz gesagt: Es hübscht Gmail mächtig auf. Bilder werden aus den E-Mails extrahiert und sind schon in der Vorschau sichtbar, ähnliches gilt für Buchungsbestätigungen zum Beispiel von Flügen oder Amazon-Kaufbestätigungen.
Doch die eigentliche „Killer-Funktion“ von Google Inbox soll ja das selbstständige Sortieren von E-Mails sein. Und tatsächlich ist der Dienst gar nicht mal schlecht darin, E-Mails selbstständig in die vorgegebenen Cluster „Reisen“, „Einkäufe“, „Social“ und so weiter einzuordnen. Besonders angenehm: Wird eine Mail beispielsweise bei „Einkäufe“ eingeordnet (zum Beispiel eine Nachricht von Amazon), bleibt das Handy ruhig, weil Google (richtigerweise) davon ausgeht, dass man keine unmittelbare Benachrichtigung zu dieser E-Mail benötigt. Überhaupt reduziert Google Inbox das „gefühlte“ E-Mail-Aufkommen beträchtlich.
Auch die Funktion, einen gesamten Tag oder sogar Monat, einfach „abzuhaken“ (als wichtig markierte E-Mails ausgenommen), indem man den entsprechenden Button betätigt, sorgt nicht zuletzt für geistiges Wohlbefinden: Da hab‘ ich wieder was geschafft.
Was Google Inbox nicht kann
Man merkt Google Inbox an Ecken und Enden an, dass es noch in den Kinderschuhen steckt. Während sich Gmail über die Zeit zu einer echten Alternative zu Thunderbird und Outlook entwickelt hat, fehlen Google Inbox so grundlegende Dinge wie der Zugang zum Adressbuch und sogar der Zugang zum Google-eigenen Dienst Hangouts. Dadurch wirkt der Dienst zwar aufgeräumt, er verliert aber viel von der Effektivität Gmails (und gerade eine Effektivitätssteigerung hat sich Google Inbox ja auf die Fahnen geschrieben). Aber gut, das können auch noch Kinderkrankheiten aus der Beta-Phase sein.
Dennoch: Auch an anderen Stellen zahlt man für den intuitiven Umgang mit Google Inbox einen hohen Preis. Sorgsam eingerichtete Labels aus Gmail werden zwar importiert, verlieren in der Praxis aber an Bedeutung. Die einzige echte Unterscheidung, die Google Inbox macht, erfolgt im binären Code: Erledigt oder nicht erledigt. Das mag das Abarbeiten von E-Mails erleichtern – spätestens wenn man sich nicht mehr an Schlagworte für die Suche erinnern kann, wird das Wiederfinden von E-Mails zur Qual.
Überhaupt stellt Google Inbox gerade Gmail-Poweruser häufig vor die Wahl: Friss oder stirb. Das manuelle Erstellen von Filtern – von einigen über mehrere Jahre gepflegt – fällt der Automatisierung von Google Inbox zum Opfer. Auch von den zahlreichen Labs-Features muss man sich gezwungenermaßen verabschieden. Selbst so grundlegende Funktionen wie die Einrichtung einer Signatur fehlen in Google Inbox.
Weitere Funktionen, die mehr Einfachheit versprechen, erweisen sich in der Praxis als wenig sinnvoll. So zum Beispiel das Verschieben von E-Mails auf Wiedervorlage. Was zunächst gut klingt, bleibt letztlich ohne große Konsequenz. Es sieht zwar nett aus, wenn der Posteingang einigermaßen leer ist, weil alle unwichtigen E-Mails auf Wiedervorlage geschoben worden sind – aber das macht weder uninteressante E-Mails spannender, noch ändert es etwas daran, dass sie irgendwann bearbeitet werden müssen.
Fazit
Google Inbox mag für Otto-Normal-User eine schicke Oberfläche bereithalten und ihm dabei helfen, die tägliche E-Mail-Flut zu bekämpfen. Professionals allerdings, die seit Jahren mit dem System arbeiten, stoßen schnell an ihre Grenzen. Der intuitive Umgang mit Google Inbox und ein paar schicke Features entschädigen bei Weitem nicht für den Funktionsverlust. Statt eines neuen Dienstes sollte Google lieber das Interface von Gmail überarbeiten und die neuen Features in den bestehenden Dienst integrieren.
PS: Wer Google Inbox selbst einmal ausprobieren möchte: Ein paar Einladungen sind noch übrig, einfach in den Kommentaren anfragen.
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