Leviathan: Im Angesicht des Ungeheuren
Schon vor deutschem Kinostart am 12. März wühlt Leviathan international Wellen des Protests und der Begeisterung auf. Schäumend krachen sie an eine raufelsige Küste Russlands, und brechen; an den Stränden des Westens hingegen werfen sich die Kritiker mit Begeisterung hinein: Leviathan! Ein langersehntes Bad in kinematografischem Heilwasser. Denn Leviathan überzeugt nicht nur ästhetisch und dramaturgisch; er bringt vor allem zeitgenössische Probleme einer großen Nation zur Sprache.
Von Vodkaflasche zu Resignation
Das Drama um die Hausenteignung des Arbeiters Kolya legt die gut geölten Mühlen der Korruption von Justiz, Polizei und Politik in Russland offen und stößt damit im eigenen Land auf heftige Kritik von oben. In einem Schauprozess nach dem nächsten verliert Kolya sein Grundstück, seine Lebensgrundlage, seine Würde. Der Weg der Hoffnungslosigkeit führt den überforderten Ehemann und Vater erstmal und immer wieder zur Vodkaflasche, bis er tatsächlich fast ohne Gegenwehr zu dem resignierten, gehorsamen Niemand wird, zu dem ihm seine machtversessenen Gegenspieler aus Lokalpolitik, Justiz und Wirtschaft machen wollten.
Zvyagintsevs konstruktive Kritik (um nicht zu sagen offenherzige Wahrheitsbekundung) an fehlender Rechtsstaatlichkeit wird im eigenen Land als verräterischer Affront gedeutet. Längst bereuen die russischen Behörden in aller Öffentlichkeit die finanzielle Förderung des Films, doch zu spät—Zvyagintsevs Streifen flimmert bereits über die Leinwände der (westlichen) Filmfestivals von Cannes bis Toronto und stößt auf überwältigende Resonanz. Die Oscarnominierung in der Kategorie ‚Bester fremdsprachiger Film‘ könnte man hier fast schon eine logische Konsequenz nennen.
Kritik nicht erwünscht
Die russische Obrigkeit sieht in Leviathan vor allem die Bestätigung eines verzerrten Außenbildes ihres Staates, welches westliche Kritiker in ihrer vorurteilsbelasteten Meinung wohl bestärken mag, in Russland selbst jedoch bitte nicht keimen und gedeihen soll. Folglich wird der Film den dortigen Kinobesuchern in abgeschwächter Version präsentiert, mutmaßlich um das schockierende Gesamtbild der Korruption, das der Regisseur von seinem Land zeichnet, in ein Einzelporträt zu verwandeln. Ein schwarzes Schaf in der Politik wird doch den gesamten Staatsapparat des Landes nicht zur faulen Herde machen? Eben jenes letzte Aufbäumen, jener letzte Versuch des Verschleierns, scheint eine längst offensichtliche Realität umso mehr zu bekräftigen. Im director’s cut hingegen bleibt wenig Zweifel über die Verhältnisse von Schuld und Unschuld, von Recht und Ungerechtigkeit, von Macht und Unterdrückung zwischen der Obrigkeit und dem kleinen Manne.
Ein schonungsloses Bild
In diesem stillen Film, der den wütenden Schreien der Protagonisten mehr Raum gewährt als beispielsweise dramatischen Musikeinsätzen, hören wir sie förmlich knacken und drehen, die Zahnräder der Maschinerie, die Kolya zu zermalmen drohen. Je weiter sich die Geschichte spinnt, je weiter sich Kolyas Schicksal in die Abgründe bewegt, desto mehr verdichten sich die Mechanismen: immer mehr Zahnräder drehen immer schneller, ein wahres Getöse, das unaufhaltsam scheint. Wir erwarten, dass es in einem großen Krach kulminiert. Wir hoffen insgeheim, dass es dabei in all seine Einzelteile zerbirst. Doch vergebens, denn der Regisseur schont uns nicht. Besser, er berührt uns in unserer Menschlichkeit. Denn am Ende ist alles Handeln, alles Irren, menschlich, und die Welt da draußen—im Kinosaal sowie im brachen Hinterland Russlands—mehr als die plumpe Gegenüberstellung von Gut und Böse. Wie die Häute einer Zwiebel enthüllt Andrey Zvyagintsev die vielen Schichten der Korruption, und parallel dazu die vielen Schritte, die es braucht, einen Mann und seine Familie von aller Zukunft zu befreien und endgültig zu brechen. Dabei offenbart sich der gesellschaftliche Alltag als komplexes Geflecht menschlicher Triebe, in der die Gier nach Macht, aber vor allem die Angst vor dem eigenen Untergang, kameradschaftliche Solidarität und sogar Familienbande aufheben.
Drama ohne Pathos
Leviathan, das Seeungeheuer aus der jüdisch-christlichen Mythologie, ist kraftvoll, unbezwingbar und unübersehbar, obgleich es niemand direkt erblickt. Der Titel des Films steht (seit Hobbes) metaphorisch für die Macht des Staates, könnte aber ebenso gut für den Film selbst stehen. Äußerst gelungen prägen sich die kühlen, entsättigten Bilder in uns ein und Hinterlassen ein Gefühl so rau, so leer und doch zugleich so wunderschön melancholisch wie die karge russische Küstenlandschaft, die sie einfangen. Dramatisch, aber frei von unnötigem Pathos, klagt Leviathan eine Realität als Zustand an, ohne die Opfer im Einzelnen zu entschuldigen oder die Henker als (fiktionale) Individuen bloß zu stellen. Bleibt daran zu erinnern, dass kein Zustand unveränderlich ist. So setzt Regisseur Zvyagintsev auch ohne Happy End ein Zeichen der Hoffnung.
Was die Leute sagenMelanie-Rating (zählt natürlich doppelt) IMDB.com Rotten Tomatoes Metacritic |
Gesamtnote
8,67 |
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